Die Wirklichkeit von Licht und Schatten

Die Wirklichkeit von Licht und Schatten

Gedanken zur Ausstellung 2020 von Franz Schuck:

Was ist Wirklichkeit?    

Ein Zustand, wie man ihn tatsächlich antrifft, erlebt; Bereich dessen, was als Gegebenheit, Erscheinung wahrnehmbar ist.

Licht macht sichtbar, zeigt uns Dinge oder, im übertragenen Sinne, beleuchtet und erhellt einen Kontext, schafft Erkenntnis. Schatten wiederum entsteht erst in der Folge von Lichteinstrahlung und verweist trotz seiner unkörperlichen Natur auf die Existenz der Dinge.

Die Bilder der Ausstellung von Silke Ziegert thematisieren damit sehr grundlegende Gedanken unserer Existenz. Die gedankliche Brücke zum berühmten Höhlengleichnis von Platon ist rasch gefunden. Platon vergleicht unsere Möglichkeiten der Erkenntnis folgendermaßen:

Die Menschen sitzen in einer Höhle. Sie sind so gefesselt, dass ihre Blicke nur in eine Richtung gehen – nämlich zu einer Wand, an der Schatten zu sehen sind. Es sind die Schatten von Dingen, die am Licht vorbeigetragen werden. Dieses Licht befindet sich hinter den Menschen. Die Menschen halten die Schatten an der Wand für die Wirklichkeit. Sie kennen ja nichts Anderes außer diesen Schatten. Erst wenn sich ein Mensch aus der Höhle befreit, kann er zum Licht hingehen und die wirklichen Dinge sehen. 

Die Höhle symbolisiert die Welt, die sich den Sinnen darbietet, die normale Umgebung des Menschen, die man gewohnheitsmäßig mit der Gesamtheit des Existierenden gleichsetzt. Der Aufstieg ans Tageslicht entspricht dem Aufstieg der Seele von der Welt der vergänglichen Sinnesobjekte zur ideellen geistigen Welt.

Die Künstlerin wählt diesen antiken philosophischen Bezug als Impuls für ihre intensive, malerische Umsetzung. Wir sehen abstrakte, höhlenartige Strukturen, durchbrochene, grobe Spaltformen oder gewölbte Grotten, kontrastreiche Kompositionen, deren Gestalt sich aus dem Dialog von Hell und Dunkel ergibt.

Dabei scheint, wie in Platons Gleichnis, die Lichtquelle von außerhalb des Bildes, dringt mit ihren Strahlen vor, verdrängt den Schatten, bildet einen Reichtum an Konturen und Formen aus, die sich mitunter verselbstständigen.

Die Gemälde zeigen das Wirken des Lichts, die Energie, die Wirklichkeit als Prozess der Veränderung. Die Gegenspieler „Licht“ und „Schatten“ finden zu einem ästhetischen Dialog, bei dem Farben und Formen zu einer Einheit zusammenfinden. Dieser positive Aspekt ist für mich ein besonders Merkmal der Malerei Silke Ziegerts.

Wir stehen Gemälden gegenüber, geprägt von kräftigem, nuancenreichem Kolorit, eingebunden in „schwingende“ Formen, bei denen der Pinselstrich als Ausgangspunkt im Mittelpunkt steht. Die Künstlerin lässt durch diese Bewegung gestische Formen entstehen, die wirken, als seien sie in einem Moment eingefangen, in dem alles für einen Augenblick zur Balance gefunden hat. Ein subjektives dynamisches Gleichgewicht. Zumeist bewahrt sich die Dunkelheit dabei einen wunderbaren farbigen Reichtum, der sich uns bei genauem Hinsehen erschließt. Mit starken, kontrastreichen oft reinen Farbklängen setzt die Künstlerin visuelle Impulse, die über die Bildfläche hinaus in den Raum greifen und wie Ausschnitte aus einem größeren Ganzen wirken. Zumeist sind die Farbflächen zu den Bildrändern hin geöffnet, weiten sich, breiten sich aus. Gelborange zu Blau, ein nahezu komplementäres Farbgefüge, erzeugt in Ziegerts Bildern ein hohes Maß an Leuchtkraft und lässt sich in vielen Werken aufspüren.

Farbspritzer, Rinnsale und andere Werkspuren zeigen den Aspekt der Geschwindigkeit, mit der Silke Ziegert zu Werke geht.

Wenn die Künstlerin vor der Staffelei steht,  oder ihr Bild am Boden bearbeitet, dann arbeitet sie mit einem besonderen Maß an Intuition. Sie fügt ihre Acrylfarben oft nass in nass zu einander,  übermalt und verändert sie, bis sich die Kompositionen schließlich verfestigen und den Moment erreichen, in dem das Bild zur Übereinstimmung mit ihrem Empfinden kommt.

Auch wenn die Bilder der Ausstellung gewissermaßen den Schlusspunkt des Malprozesses zeigen, so spürt man doch stets die formsuchenden und formgebenden Kräfte, die die Künstlerin bei ihrer Arbeit antreiben. Die Harmonie von heute, wird zur Dissonanz von morgen. Auf Aktion folgt nicht selten die Destruktion. Viele der Bilder sind das Ergebnis einer längeren sehr persönlichen Auseinandersetzung.

Die Künstlerin beherrscht die Sprache der gestischen Malerei. Die Dynamik der Linie, rhythmische Ordnungen, der Einsatz der Materialität der Farbe führen zu Werken, die sich einer vorgefertigten, kompositionellen Planung und auch jeder eindeutigen Gegenständlichkeit entziehen, jedoch im Wechselspiel aus farbiger Linie und Fläche einen hohen Grad an Expressivität erzielen.

Die abstrakte Malerei hatte im historischen Kontext ihrer über 100 Jahre andauernden Entwicklungsgeschichte stets das Potential sich über Normen hinwegzusetzen, Grenzen zu überwinden, sich zu befreien. Heute ist diese künstlerische Position ein persönlicher Akt, der sich gänzlich ins Subjekt verlagert hat.

Der 1919 geborene Maler Pierre Soulages hat den Akt des Malens in treffender Weise beschrieben und seine Worte treffen für mich auf die Malerei Silke Ziegerts sehr gut zu:

“ Wenn ich male, folge ich keiner Theorie; Formen, Farben, Material und ihre Synthese stehen jenseits der Sprache, lassen sich nicht ausdrücken. (…) Ich arbeite unter der Lenkung eines inneren Impulses, eines Verlangens nach bestimmten Formen und Farben, nach einem bestimmten Material, und erst wenn ich sie auf die Leinwand übertragen habe, geben sie mir Aufschluss über das, was ich will. Erst beim Malen erfahre ich, was ich suche.“

Es ist die Veränderlichkeit der eigenen Sehweise, der eigenen inneren Empfindung, die zu einem kontinuierlichen Vorgang der Übermalung und der Veränderung führt. Ein mitunter mühsamer Weg. Obgleich die Werke, die wir hier sehen, unter einem Konzept zusammengefasst sind, lassen sie sich auch in unabhängiger Weise voneinander betrachten.

Einige der gezeigten Werke bildet die Konturen von Menschen ab. Schemenhafte helle und dunkle androgyne Torsi, bei denen Farben nur in zurückhaltender Form auftauchen.

Plinius führt die Entstehung der Malerei zurück auf eine rührende Liebesgeschichte. Debutade, ein Mädchen aus Korinth, nimmt bei Kerzenschein Abschied von ihrem Geliebten, der in die Ferne zieht. Die Lampe wirft seinen Schatten an die Wand und das Mädchen zieht den Umriß mit einer Linie nach um das Bild des Geliebten festzuhalten.

Der Schatten wird zur Erinnerung. Die Kunst verleiht dem Vergänglichen eine bleibende Form.

Malerei, wie sie in dieser Ausstellung gezeigt wird, ist ein Wille, die Wirklichkeit zu sehen und an ihrem Verständnis mitzuarbeiten. Wenn es gleichzeitig mit einem ästhetischen Genuss verbunden ist, so ist das umso erfreulicher.

Ich wünschen Ihnen inspirierende Begegnungen mit den Bildern, die Silke Ziegert hier präsentiert.

Franz Schuck 19.10.2020